Parentifizierung kommt von „parentes“ für Eltern und „facere“, was so viel wie machen bedeutet. Es bedeutet, die Übertragung der elterlichen Rolle und der damit verbundenen Aufgaben auf das Kind.
In diesem Blogartikel beschreibe ich, was das genau ist und warum es sich dabei um emotionalen Missbrauch handelt. Wir gehen auf Ursachensuche, erforschen ungesunde Loyalitätskonflikte mit einem Elternteil und Du erfährst von den Langzeitfolgen.
Das findest Du in diesem Blog-Artikel
Wenn Du als Kind Aufgaben übernommen hast, die Dich überfordert haben
Schon als Kind war Tanja die enge Vertraute ihrer Mutter. Die Mutter besprach alle ihre Sorgen und Nöte mit ihr, machte sie zur Vertrauten. Auch über die Probleme mit dem Vater.
Was Tanja in ihrer Kindheit erlebt hatte, nennt man Parentifizierung. Das ist eine Rollenumkehr, bei der Tanja von ihrer Mutter „funktionalisiert“ wurde. Sie sollte diese trösten und unterstützen. Als Kind hat Tanja – unbewusst – versucht, dieser Rolle zu entsprechen und war dabei vollkommen überfordert.
Parentifizierung kommt von „parentes“ für Eltern und „facere“, was so viel wie machen bedeutet. Es bedeutet, die Übertragung der elterlichen Rolle und der damit verbundenen Aufgaben auf das Kind.
Es wird unterscheiden zwischen verschiedenen Formen der Parentifizierung:
- Emotionale Parentifizierung: wenn das Kind in die emotionalen Probleme der Eltern hereingezogen wird. Oft soll es Partnerersatz sein.
- Instrumentelle Parentifizierung: das Kind muss Aufgaben übernehmen, die es altersgemäß überfordert.
- Destruktive Parentifizierung: das Kind muss Aufgaben übernehmen, die es emotional oder instrumentell überfordern (siehe oben) und die seine Entwicklungsmöglichkeiten einschränken.
Es gibt aber auch positive Formen, wie die adaptive Parentifizierung, bei der das Kind altersgemäß gefordert wird Aufgaben zu übernehmen. Eine wichtige Unterscheidung: die Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes werden dadurch nicht eingeschränkt, sondern sogar gefördert.
Warum Parentifizierung emotionaler Missbrauch ist
Parentifizierung wird – aufgrund der erforschten, schwerwiegenden Langzeitfolgen – von Psycholog*innen als emotionaler Missbrauch gesehen (vgl. z.B. Dettenborn & Walter, 2016).
Aus gutem Grund: Denn wenn Du als Kind parentifiziert wurdest, dann tust Du Dich als Folge dieser verdrehten Familien-Dynamik in der Regel heute noch schwer, Deine eigenen Bedürfnisse zu kommunizieren und Grenzen zu setzen. Denn die wurden ja damals schon nicht anerkannt.
Außerdem verlierst Du Deine kindliche Unbefangenheit, Sorglosigkeit und Spontaneität, die Dir dann auch als Erwachsene nicht mehr zur Verfügung stehen.
Wie wir weiter unten sehen, sind das Folgen der Weitergabe transgenerationaler Traumata. Aber keine Sorge, denn Du kannst diesen Teufelskreis durchbrechen. Auch, damit Du sie nicht an Deine Kinder und Enkel weitergibst.
Quelle: siehe Kriegsenkel-Literatur
Parentifizierung: Ursachensuche
Tanja findet heraus, dass ihre Mutter eine schwierige und traumatisierende Kindheit während des Zweiten Weltkriegs hatte. Sie flüchtete schon als 6-Jährige mit der gesamten Großfamilie aus Schlesien.
Damals ging es vor allem ums Überleben. Emotionale Zuwendung gab es kaum. Ihre Mutter war vor allem damit beschäftigt, das Überleben der Familie zu sichern. Außerdem war sie eine Anhängerin der schwarzen Pädagogik. Die zum Beispiel vertrat, dass man Säuglinge schreien lassen sollte, „damit sie nicht zu verzogenen „Bratzen“ heranwuchsen“. Wodurch die armen Kinder emotional völlig unterversorgt und – auch durch die weiteren Kriegserlebnisse – traumatisiert wurden.
Diese von ihren Eltern (vermutlich Deine Großelterngeneration) emotional unterversorgten Kinder (vermutlich Deine Eltern), waren nicht wirklich in der Lage ihre Kinder emotional zu „beeltern“. Ganz im Gegenteil versuchten sie – unbewusst – ihre emotionalen Löcher mit den eigenen Kindern zu füllen.
So werden Kriegstraumatisierungen an die nachkommende Generation weitergegeben. Tanja wird klar, warum der Krieg sie heute noch beeinflusst.
Sie entscheidet sich, diesen Teufelskreis mit der 1:1 Begleitung „Leichter Lebensfluss“ zu durchbrechen. Sie will ihre Sorglosigkeit und inneren Frieden zurück.
Ungesunde Loyalitätskonflikte mit einem Elternteil
Bei der Trennung der Eltern wurde es für Tanja als Kind dann noch schwieriger: Sie bekam Schuldgefühle, wenn sie den Vater sehen wollte. Denn die Mutter litt unter der Trennung und sie kam hier in einen Loyalitätskonflikt. Die symbiotische Beziehung zu ihrer Mutter ließ das nämlich nicht zu.
Sie bekam von der Mutter den Auftrag, den Vater auszuspionieren und von möglichen Affären zu berichten. Tanja sollte sich also um das Wohlergehen der Mutter kümmern und ihre eigene Beziehung zum Vater verleugnen. Das belastete Tanja sehr.
Langzeitfolge von Parentifizierung:
1. Verlust kindlicher Unbefangenheit
Tanja verlor damals als Kind – durch den emotionalen Missbrauch der Parentifizierung – den Zugang zu ihrer kindlichen Unbefangenheit. Noch heute führt sie als Erwachsen ein Leben, das sich meistens ernst, schwer und anstrengend anfühlt.
Sie vermisst ihre Spontaneität und Sorglosigkeit. Hinter ihrer professionellen Fassade ist sie oftmals traurig. Tanja sehnt sich nach mehr Leichtigkeit und will endlich das unsichtbare Gummiband lösen, das sie davon abhält, voll in ihrem Leben durchzustarten. Stattdessen fühlt sie sich angepasst und wird häufig traurig, wenn sie ihre Bedürfnisse nicht ausdrücken kann.
In meiner Einzelbegleitung „Leichter Lebensfluss“ befreit Tanja ihr inneres Kind aus dem Schattenreich. Das ist jener Anteil, der sich damals – durch die Parentifizierung – nicht mehr zeigen durfte und ihre Sorglosigkeit und Leichtigkeit „mitgenommen und vergraben“ hat. Tanja holt sich diesen inneren Anteil und damit auch ihre Leichtigkeit zurück.
2. Abgrenzungsprobleme
Tanja hatte aufgrund der symbiotischen Beziehung zur Mutter heute noch große Probleme, sich in ihren erwachsenen Beziehungen gut abzugrenzen. Sie fühlt sich vor allem dann gut, wenn sie für andere da sein kann. Ihr Selbstwertgefühl ist verknüpft mit der Bedürfnisbefriedigung anderer.
Ihre eigenen Bedürfnisse kamen immer ganz am Schluss. „Zuerst müssen die anderen versorgt werden“, war lange ihr Leit(d)spruch. Sie erinnert sich daran, wie sie sich das schon damals als junge Mutter gesagt hatte.
Heute, mit Anfang 50 entlädt sich ihre innerlich angestaute Wut meist völlig unkontrolliert, wenn die Familie mal wieder etwas von ihr will. Was zu irritierten Gesichtern und keiner wirklichen Problemlösung führt.
Sie spürt, dass sie nicht mehr so weiter funktionieren will oder kann wie früher. Doch weiß sie nicht, wie sie ihre Bedürfnisse ernster nehmen und klar kommunizieren soll. Kommunikations-Strategien bewirken leider nichts, denn die Ursache sitzt „eine Etage tiefer“.
Ich begleite sie im Rahmen von „Leichter Lebensfluss“ dabei, Zugang zu ihrem inneren Druckkochtopf zu finden und den Deckel sanft zu lösen. Das unterdrückte, wütende innere Kind, dass sich nie mit den wahren Bedürfnissen zeigen durfte (weil es damals zu gefährlich war) bekommt so endlich wieder einen Platz am „inneren Tisch“. Ihre Lebendigkeit, Spontaneität und Leichtigkeit kehren ganz natürlich wieder zurück.
3. Weitere Langzeitfolgen
- Geringes Selbstwertgefühl
- Bindungsstörungen
- Depressionen
- Verhaltensauffälligkeiten: Kinder verlieren das Interesse an sozialen Kontakten und Spielen.
- Verlust von Spontaneität und Sorglosigkeit
- Essstörungen
- Drogenmissbrauch
- Suizid-Tendenzen
Wie Du die Folgen von Parentifizierung einfach transformieren kannst
Ganz egal, wie sehr Du in Deiner Kindheit unter Parentifizierung gelitten hast und wie sehr es auch immer Dein Leben heute noch beeinflusst: Du kannst in jedem Alter lernen, Grenzen zu setzen und Dein inneres, vernachlässigtes Kind aus dem Schatten zu befreien.
Spontaneität, Leichtigkeit und Sorglosigkeit stehen Dir zu.
Die 5 bestgehüteten Geheimnisse, warum Du so erschöpft bist.
P.S.: Dieser Artikel ist im Rahmen der Blog-Dekade 2022 entstanden, einer Challenge, an der viele Bloggerinnen aus der Content Society teilnehmen. Wir schreiben 10 Artikel in 10 Tagen.
Literatur & Quellen
Literatur und Quellenangaben zu „Parentifizierung“, sowie zum Thema „Kriegsenkel“ findest Du hier.
4 Gedanken zu „Was ist Parentifizerung?“
So ein wichtiges Thema. Danke fürs erklären anhand einer (fiktiven) Person.
Ich konnte dabei sehr gut mitgehen.
Danke, liebe Julia. Herzliche Grüße, Iris
Liebe Iris,
anke für diesen Artikel, der das ach so wichtige Thema „Parentifizierung“ so gut erläutert. Mich würde interessieren, was du mit positiver Parentifizierung meinst. Es wundert mich, dass man dafür denselben Begriff verwendet.
Mich als Mutter erschreckt es immer wieder, wie schmal der Grad ist, auf dem man wandelt. Ich wollte nie die Fremde sein, die meine Eltern in gewisser Weise immer für mich waren, weil sie mich nicht an ihren persönlichen Gedanken haben Anteil lassen. Ich glaube im Nachhinein, dass ein wenig mehr Verschweigen meinen Kindern gegenüber doch besser gewesen wäre.
Liebe Grüße
Heidrun
Danke Dir, liebe Heidrun. Positive Parentifzierung meint, dass Kinder – der Entwicklung entsprechend – Aufgaben übernehmen. Diese Aufgaben fordern, aber überfordern das Kind nicht. So kann das Kind lernen Verantwortung zu übernehmen im Miteinander. Ich hoffe, das hilft. Herzliche Grüße, Iris PS: Schuldgefühle sind Dir nicht dienlich in Deiner Entwicklung – auch nicht für Deine Kinder.